Die „Menschen auf Wegen“. Die Zwangsmigrationen in Ostmitteleuropa

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Die Migration ist ein weites Feld. Sie begleitete die Menschheit von Beginn an. Wir haben es in der Geschichte mit unterschiedlichen Formen der Migration zu tun, sodass wir in der Forschung viele Vorschläge zur Typologisierung dieses Phänomens finden. Das 20. Jahrhundert war von unterschiedlichen Migrationswellen nicht verschont. In Ostmitteleuropa war die Migration in der Dekade der Jahre 1939-1949 ein Massenphänomen und hatte vor allem Zwangscharakter. In meinen weiteren Ausführungen konzentriere ich mich im genannten Zeitraum ausschließlich auf die Zwangsmigrationen im polnischen Territorium.

Krystyna Kersten, eine bekannte, vor wenigen Jahren verstorbene polnische Historikerin, betitelte einen ihrer Aufsätze über die polnische Gesellschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Worten „Menschen auf Wegen” (ludzie na drogach). Es ist eine treffende Bezeichnung, wenn man berücksichtigt, wie viele Millionen Menschen der Krieg und seine Folgen auf polnischem Gebiet zum Verlassen ihrer Häuser gezwungen hat. Die Kriegsgefangenen ausgenommen, betrafen die Migrationsbewegungen vom Zwangscharakter in den 40er und 50er Jahren über sechs Millionen Polen. Das machte 1/4 der polnischen Bevölkerung aus.

Das Schicksal des Flüchtenden, Ausgesiedelten, Deportierten oder Vertriebenen traf auf dem Gebiet Polens nicht nur die Polen selbst. Das Territorium Polens mit den Veränderungen, wie sie in den Jahren 1939 und 1945 erfolgten, umfasste nahezu 0,5 Mio. Quadratkilometer. Als Betroffene von Zwangsmigrationen sind außerdem noch die Juden, Deutschen, Ukrainer und andere Nationalitäten zu nennen. Die Zwangsmigration ist also nicht die Erfahrung einer konkreten Nation. Das bedeutet, dass ein Vergleich bei der Behandlung dieser Fragen und ihrer Bedeutung im Kontext des europäischen Schicksals im 20. Jahrhundert wichtig ist.

Eine weitere Beobachtung betrifft die Veränderbarkeit der Rolle der meisten Personengruppen in dieser Dekade der Zwangsmigrationen. Die Aussiedelnden werden zu Ausgesiedelten, die Flüchtlinge oder die Deportierten selber zwangen die anderen zu ihrer Abschiebung. Die zwangsweise Entfernung der Bevölkerung vom konkreten Territorium wurde als normales (notwendiges) Instrument der Innenpolitik gesehen, das die Probleme der nationalen Minderheiten offiziell löst. Auf der Ebene der durchführenden Beamten dieser Aktionen gab dieses Instrument ihnen die Möglichkeit, Rache auszuüben oder materielle Vorteile zu erzielen. Nach 1945 wurden diese Methoden unter der Akzeptanz der Großmächte angewandt und als „kleineres Übel“ gesehen.

Im 20. Jahrhundert waren die Polen von Zwangsmigrationen, vor allem infolge des Krieges, der Okkupation und der mit dem Abschluss von diesen Konflikten zusammenhängenden politischen Beschlüssen betroffen. Ihr Umfang überstieg die Ereignisse des Ersten Weltkrieges, als Tausende von Personen vor der Front flüchtete oder evakuiert wurde. Die polnischen Gebiete wurden schon im 19. Jahrhundert zum Migrationsgebiet. Tausende von Personen emigrierten aus Wirtschaftsgründen in die westlichen Teile des deutschen Kaiserreiches, nach Sibirien oder nach Amerika. Der Kampf um die polnische Unabhängigkeit verursachte Repressionen in Form von Verbannung ins Innere Russlands oder zwang nach der erneuten Niederlage der polnischen Aufstände des 19. Jahrhunderts zur politischen Emigration.

Der Ausbruch des Krieges im Jahre 1939 verursachte die chaotische Evakuierung und Flucht von hunderttausenden Personen aus den westlichen und zentralen Gebieten Polens in Richtung Ostpolens. Ca. 50 Tsd. Flüchtlinge überschritten die Grenze Polens und fanden sich auf dem Gebiet Ungarns, Rumäniens und in kleiner Zahl in Litauen und Estland wieder. Ende 1939 befanden sich in der von der UdSSR okkupierten Gebieten Ostpolens ca. 100 Tsd. Flüchtlingen aus den Westteilen Polens, vor allem Juden.

Die Aufteilung der durch die Deutschen okkupierten polnischen Gebiete und die damit verbundenen Pläne zur Veränderung der nationalen Verhältnisse waren eine Ursache für die Massenaussiedlungsaktion der polnischen und jüdischen Bevölkerung. Am stärksten davon betroffen waren die an das Reich angeschlossene Gebiete, d. h. Westpommern, Großpolen, Lodzer Land, polnisch Oberschlesien und Nordmasowien. Ein Gebiet der brutalen Deportationen von Polen und der planmäßigen deutschen Kolonisation war vor allem das sog. Wartheland (Großpolen und Lodzer Land). Bis März 1941 wurde aus den an das Generalgouvernement (weiter GG) angeschlossenen Gebieten ca. 360 Tsd. Polen ausgesiedelt, hauptsächlich aus Wartheland. Die Deportierten verloren fast ihr ganzes Eigentum, sie durften nur ihre persönlichen Gegenstände behalten.

Der sich in die Länge ziehende Krieg, die Probleme mit der Ansiedlung der Deportierten sowie die Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft hatten zur Folge, dass die Massenaussiedlungen ins GG im März 1941 gestoppt wurden. Während des ganzen Krieges fanden in den angeschlossenen Gebieten die Innenaussiedlungen und Vertreibungen der polnischen Bevölkerung statt. Sie waren mit der Enteignung, Beschlagnahmung von Wohnungen und Höfen verbunden. Insgesamt waren ca. 470 Tsd. Personen diesen Repressalien ausgesetzt. Aus den Häusern wurden ca. 850 Tsd. Polen verjagt.

Ende 1942 fanden im GG die ideologisch motivierten Aussiedlungen statt. Bisher wurden nur die Aussiedlungen von Polen aus den vom Militär übernommen Gebieten oder aus den „nur für Deutsche” vorgesehenen Stadtvierteln organisiert. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Deportationen von Juden in die Gettos abgeschlossen. Fortgeschritten war auch ihre Deportationsaktion in die Konzentrationslager mit dem sofortigen Tötungsziel. An der östlichen Grenze plante Himmler, einen „Schutzwall für die Deutschen“ zu errichten. Erstes Opfer von Aussiedlungen wurde das Zamosc-Gebiet, ein von Landwirtschaft geprägtes Gebiet. Innerhalb kurzer Zeit wurde dort seit Dezember 1942 eine grausame Deportation von ca. 100 Tsd. polnischer Bauer durchgeführt. Nach der Niederlage des Warschauer Aufstandes (1.08.–2.10.1944) wurden aus der Hauptstadt Polens 0,5 Mio. Polen vertrieben. Tausende von ihnen wurden in die deutschen KZ-Lager gesperrt, ca. 100 Tsd. wurde zur Zwangsarbeit geschickt, der Rest wurde unter primitiven Verhältnissen im GG untergebracht.

Die Aussiedlungen waren brutal, betrafen ganze Familien, und in einigen Fällen (Zamosc-Gebiet, die Gegend um Seybusch, Warschau) ganze Ortschaften. Sie waren mit der Verschickung zur Zwangsarbeit verbunden. In den Plänen der Nazis waren sie nur ein Präludium zur großangelegten Zwangsmigration im Rahmen des sog. Generalplan-Ost, der alle Nationen dieses Teils Europas, darunter auch die Polen, umfassen sollte. Die Historiker schätzen, dass die Aussiedlungen in unterschiedlicher Form ca. 1,6 Mio. Polen betrafen. In dieser Zahl sind die Personen, die vom Okkupationsapparat zur Zwangsarbeit in Landwirtschaft und Industrie ins Reich geschickt wurde, nicht miteinberechnet. Dieser kann aufgrund des Zwangs und der Behandlung der Arbeiter allerdings ebenfalls als eine Form der Deportation betrachtet werden.

Auch der zweite Okkupant, die UdSSR, wandte die Deportationen in den eroberten Gebieten an. Sie wurden in den Jahren 1940-1941 in vier Wellen durchgeführt. Ihr Ziel war vor allem die Säuberung von sog. Klassenfeinden und antisowjetisch eingestellten Personen. Obwohl man sich vom nationalen Kriterium offiziell nicht leiten ließ, war die polnische Bevölkerung von diesen Maßnahmen stark betroffen. Das resultierte aus der politischen und gesellschaftlichen Position der Polen in diesem Gebiet.

Die Menschen wurden in der Nacht abgeholt, sie durften nur wenige persönliche Gegenstände und Lebensmittel mitnehmen. Ausgesiedelt wurde unabhängig von Alter und Gesundheitszustand. Am schlimmsten waren die Aussiedlungen im Winter Anfang des Jahres 1940, als viele Personen während der Transporte erfroren. Die Archivrecherchen wurden erst nach dem Fall des Kommunismus Anfang der 90er Jahre möglich. Die Historiker schätzen, dass 320 Tsd. Personen ausgesiedelt wurden, vor allem polnischer Nationalität. Die meisten Menschen, ca. 140000 wurden am 10. Februar 1940 ausgesiedelt.

Die Opfer der ersten Deportation waren die Ansiedler aus den Dörfern, Angestellte im Forstdienst, zusammen mit ihren Familien. Später wurden die Familien von verhafteten Personen, Kriegsgefangenen sowie der Flüchtlinge aus Westpolen deportiert. Tausende wurden in die Arbeitslager im Innere der UdSSR verschickt. Diese Personen blieben unter der Überwachung des/der NKWD, sie unterlagen einer Arbeitspflicht. Die Lebensbedingungen dort waren aufgrund des Klimas sehr schwierig, sie wurden von Hunger geplagt, ihre Kräfte waren durch die schwere Arbeit ruiniert.

Die Veränderung der Nachkriegsgrenzen Polens infolge des Zweiten Weltkriegs verursachte, dass sein Ende nicht zum Beginn der Rückkehr der Ausgesiedelten oder Vertriebenen aus ihren Häusern bedeutete, sondern eine große Migrationswelle, zum Grossteil die zwangsweise imitierte.

Die Verschiebung der Grenzen Polens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete nicht den Beginn der Rückkehr der Ausgesiedelten und Vertriebenen in ihre Häuser. Stattdessen führte er zu einer großen Migrationswelle, ausgelöst durch Zwangsmigration. Schon im September 1944 genehmigte die der UdSSR untergeordnete, vorläufige kommunistische Regierung die Aussiedlung der Polen aus den an die Sowjetunion angeschlossenen polnischen Ostgebiete. Es wurden damals ca. 1,3 Mio. Personen in den Jahren 1944-46 umgesiedelt, vor allem in die Gebiete, die einstmals zu Deutschland gehört haben.

Die Reihen der aus Ostpolen stammenden Ansiedler erweiterte im Jahre 1946 die Repatriierung von ca. 250 Tsd. betroffenen Personen, die zu Anfang des Krieges ins Innere der UdSSR deportiert worden waren. Davon machten die Juden die Hälfte aus. Die Ostprovinzen Deutschlands sollten zum neuen Zuhause der Umsiedler oder Repatriierten aus dem Osten werden. Hinzu kamen die sog. Exilpolen, Zwangsarbeiter und die Hälftige der KZ-Lager. Ein neues Leben suchten dort darüber hinaus die Polen aus West- und Zentralpolen, deren Existenz die Kriegszerstörungen erschüttert haben. Es gab darunter auch Menschen, die ihre materielle Lage unter den neuen Bedingungen verbessern wollten.

Dieser Ansiedlungsprozess setzte die Vertreibung der deutschen Bevölkerung voraus, was die Durchsetzung einer homogenen nationalen Gestalt Nachkriegspolens sowie die allgegenwärtige antideutsche Stimmung begünstigte. Ein Teil der Deutschen hatte die Ostgebiete infolge der Evakuierung und Flucht vor der anrückenden Front schon früher verlassen. Aus den von Polen übernommenen Ostgebieten Deutschlands wurden über drei Mio. Deutsche ausgesiedelt. Der Großteil stammte aus Niederschlesien. Die Aussiedlungen hatten Zwangscharakter. Am brutalsten war die chaotische Militäraktion im Sommer 1945 (die sog. wilden Vertreibungen). Die organisierten Aussiedlungen fanden mit Zustimmung der Großmächte statt und verliefen unter besseren Verhältnissen. Es wurde erlaubt, private Gegenstände und etwas Geld mit auf den Weg zu nehmen. Der Bahntransport wurde gesichert.

Das Schicksal der ukrainischen Bevölkerung darf nicht unerwähnt bleiben. Der blutige polnisch-ukrainische Konflikt während des Zweiten Weltkrieges übte auf ihre Lage einen entscheidenden Einfluss aus. Die nach der Schaffung eines homogenen Staates strebenden Kommunisten vereinbarten mit den UdSSR die Aussiedlung der Weissrussen, Litauer und Ukrainer hinter die östliche Grenze. Nur im letztgenannten Fall hatte die Aktion, die unter der militärischen und polizeilichen Begleitung durchgeführt wurde, einen Zwangscharakter. In die sowjetische Ukraine wurde fast 0,5 Mio. Ukrainer ausgesiedelt. Der Rest der ukrainischen Bevölkerung wurde im Jahre 1947 zwangsweise aus ihre Dörfern ausgesiedelt und auf die Nord- und Westgebiete Polens verteilt. Die Aktion umfasste ca. 140 Tsd. Personen. Es war ein offenkundiges Beispiel für die Anwendung der Kollektivverantwortung und der Akzeptanz des Nationalismus durch die Kommunisten.

Das waren die wichtigsten Bevölkerungsbewegungen mit Zwangscharakter. Sie betrafen in den 40er Jahre des 20. Jahrhundert das Gebiet Polen in den Grenzen zwischen 1939 und 1945 mehr als 20 Mio. Personen unterschiedlicher Nationalität, darunter 6 Mio. Polen und über 12 Mio. Deutsche. Manche Personen wurden zum zweifachen Opfer von Zwangsmigrationen. Es war also die Erfahrung eines Großteils der Familien der heutigen Einwohner der polnischen Nord- und Westgebiete. Bei der Beschäftigung mit diesem Thema darf man den historischen Kontext nicht außer Acht lassen: den vom Dritten Reich ausgelösten Zweite Weltkrieg.

Die Zwangsmigrationen hatten Bevölkerungsverluste verursacht, deren Ausmaß bis heute nicht zu erfassen ist. Sie führten darüber hinaus zu großen materiellen Verlusten infolge von Zerstörungen, Raubüberfällen, Verwüstung. Alte gesellschaftlichen Netzwerke wurden zerstört, neue mussten erst wieder aufgebaut werden. Die Zwangsmigrationen zerstörten das Sicherheitsgefühl, die Stabilität und das Vertrauen der Menschen. Sie hinterließen für mehrere Jahrzehnte politische Probleme. Die Überwindung ihrer Folgen dauert in einigen Bereichen noch bis heute an.

O autorze

Krzysztof Ruchniewicz

professor of modern history, blogger - @blogihistoria and podcaster - @2hist1mikr. Personal opinion

komentarz

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  • Ich danke Ihnen sehr für diesen erhellenden Beitrag.

    In Deutschland ist über die Zwangsmigration der osteuropäischen Völker leider viel zu wenig bekannt. Im Mittelpunkt der Diskussion steht hier meist die Umsiedlung der Deutschen aus Ostpreußen, Polen und Böhmen. Ich wünschte mir sehr, dass solche Fakten nicht nur in Fachkreisen publiziert würden, sondern auch breit zur Diskussion stehen könnten.

    In dieser leidvollen Geschichte so vieler europäischer Familien sehe ich – unabhängig von deren Ursache – eine Gemeinsamkeit, die uns Europäer zusammen einstehen lassen sollte für drei Dinge als beste Gewähr dafür, dass sie sich nie wiederholen möge:

    – den respektvollen Umgang mit jedem menschlichen Wesen;
    – das achtsame und wirkungsvolle Entgegentreten gegen jede nationalistische Überhebung gegenüber anderen Völkern;
    – die Wahrung demokratischer Organe und Mechanismen als beste Gewähr für eine friedliche Zukunft.

Krzysztof Ruchniewicz

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